Kultureller Fortschritt bei Kohlmeisen
Zuwanderung hilft Vogelpopulationen beim Wechsel zu effizienteren Verhaltensweisen
Forschende der Universität Konstanz und des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie haben herausgefunden, dass Vogelpopulationen in der Lage sind, sich kulturell anzupassen und dadurch effizienter zu werden. Die beobachteten Kohlmeisen-Populationen wechselten von einer traditionellen Verhaltensweise zu einer effektiveren Alternative, sofern es zu einem allmählichen Austausch von bestehenden Gruppenmitgliedern gegen externe Artgenossen kam. Die gerade im Open-Access-Format in der Fachzeitschrift Current Biology erschienene Studie beschreibt damit Zuwanderung als eine wichtige Triebkraft kulturellen Wandels bei Tieren, die es Tiergruppen ermöglicht, sich effektiv an schnellwechselnde Umweltbedingungen anzupassen.
Unter „Kultur bei Tieren“ verstehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jegliche Verhaltensweisen, die durch soziales Lernen erworben wurden, unter den Mitgliedern einer Gruppe geteilt werden und über Generationen hinweg in der Gruppe Bestand haben. Derartige kulturelle Traditionen sind heute von verschiedenen Tiergruppen bekannt. Wir finden sie zum Beispiel bei Primaten, Walen und Delfinen, Nagetieren und Vögeln.
Ein anschauliches Beispiel für kulturelle Traditionen im Tierreich wurde ebenfalls bei Kohlmeisen beschrieben: In den 1920er Jahren wurde beobachtet, wie diese in einer Stadt in Großbritannien die Verschlussfolie von Milchflaschen öffneten, um an die darunterliegende Rahmschicht zu kommen. Das Verhalten breitete sich über die nachfolgenden 20 Jahre weiter unter den Kohlmeisen aus, bis schließlich überall in Großbritannien Artgenossen zu finden waren, welche das gleiche Verhalten zeigten.
Im Jahr 2015 bestätigten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler experimentell, dass Kohlmeisen dazu in der Lage sind, kulturelle Traditionen aufrechtzuerhalten. Einzelnen Kohlmeisen wurde eine neue Verhaltensweise – von Verhaltensforschenden als „Innovation“ bezeichnet – beigebracht. Die Innovation wurde anschließend von anderen, untrainierten Vögeln aufgegriffen und verbreitete sich nach und nach innerhalb der untersuchten Populationen.
Bisher war jedoch weder für Kohlmeisen noch für andere Tiere mit kulturellen Traditionen bekannt, ob Tiergruppen ihre Kultur nachträglich verändern und weiterentwickeln können. Sind die Mitglieder einer Gruppe dazu verdammt, dieselben traditionellen Verhaltensweisen zu wiederholen und beizubehalten, nachdem sich eine Tradition innerhalb der Population etabliert hat? Oder können sie zu effizienteren Verhaltensweisen wechseln?
Die aktuelle Studie zeigt nun, dass effizientere Verhaltensweisen ein bereits etabliertes aber weniger effizientes Verhalten verdrängen können. Fluktuationen in der Zusammensetzung der Population, ein grundlegender Prozess, der im Englischen als „population turnover“ bezeichnet wird, wurden dabei als entscheidend für eine solche Veränderung bestehender Traditionen bei Tieren ausgemacht. Die Studie, bei der Wildfängen von Kohlmeisen beigebracht wurde, eine Rätselaufgabe zu lösen, während ihr Verhalten mit hoher Genauigkeit nachverfolgt wurde, liefert quantitative Hinweise auf eine kulturelle Weiterentwicklung der Tiere.
„Experimentelle Beweise für kulturellen Wandel bei Tieren sind sehr selten. Wir waren daher von den Ergebnissen unserer Studie überrascht und begeistert“, sagt Michael Chimento, Erstautor der Studie und Doktorand in der Arbeitsgruppe „Kognitive und Kulturelle Ökologie“ am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie.
Das Forschungsteam unter Führung der Max-Plank-Arbeitsgruppenleiterin Prof. Dr. Lucy Aplin, Letztautorin der Studie und Principle Investigator des Exzellenzclusters „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour“ der Universität Konstanz, untersuchte Kohlmeisen-Populationen, welche aus den Wäldern rund um Konstanz stammten. Da wildlebende Kohlmeisen im Winter, sprich unter rauen Umweltbedingungen, in veränderlichen sozialen Verbänden leben, vermuteten die Forschenden, dass Zuwanderung eine Rolle bei der kulturellen Evolution spielen könnte.
„Aufgrund ihrer mangelnden Erfahrungen mit den kulturellen Traditionen der Gruppe könnten zugewanderte Artgenossen einen unvoreingenommeneren Blick auf mögliche Lösungen für bestehende Probleme haben und dadurch den kulturellen Wandel innerhalb der Gruppe beeinflussen“, erläutert Chimento.
Die Forschenden nutzten im Labor gehaltene Kohlmeisen-Populationen aus ehemals wildlebenden Tieren, um der Frage nachzugehen, ob und wie veränderliche soziale Gruppen ein sozial erlerntes, traditionelles Nahrungssuchverhalten ändern. Sie bildeten dafür 18 Vogelgruppen, von denen jede Zugang zu einer automatisierten Rätselbox mit Futterbelohnung hatte. Sobald ein Vogel das Rätsel löste und so an das Futter gelangte, wurden mithilfe von RFID- und Infrarot-Technologie sowie computergestützter Bildverarbeitung die Identität des Tieres, die Art der Lösung und die benötigte Lösungsdauer erfasst. Jede Gruppe hatte außerdem einen „Tutor“, dem eine vergleichsweise ineffiziente Lösung des Rätsels antrainiert wurde, welche sich dann in der Gruppe verbreitete. Anschließend wurde die Hälfte der Gruppen im weiteren Verlauf statisch gehalten. In der anderen Hälfte wurden über einen Zeitraum von vier Wochen nach und nach einzelne Gruppenmitglieder durch neue Wildfänge ausgetauscht.
Obwohl beide Gruppentypen, statische und veränderliche, im Laufe des Experiments eine effizientere Lösung für die Rätselaufgabe entwickelten, zeigten die veränderlichen Populationen eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, diese als ihr bevorzugtes Verhalten zu übernehmen. Die ursprünglichen Gruppenmitglieder, die bereits mit der Rätselaufgabe vertraut waren, waren in der Regel diejenigen, welche die verbesserte Lösung für die Aufgabe entwickelten, diese jedoch nicht als ihre bevorzugte Lösung annahmen. Stattdessen waren es die unerfahrenen Zuzügler, welche die Innovation aufgriffen und übernahmen und damit die in der Gruppe zur Verfügung stehende soziale Information über die effektivere Lösung verstärkten. Vögel aus veränderlichen Gruppen waren dadurch am Ende in der Lage, die Rätselaufgabe schneller zu lösen als die aus statischen Gruppen, obwohl sie insgesamt weniger Erfahrung hatten.
„Kohlmeisen scheinen im Vergleich zu anderen Arten gut in vom Menschen geschaffenen Lebensräumen zurechtzukommen“, sagt Chimento. „Unsere Studie zeigt, wie ihre veränderlichen sozialen Dynamiken Teil ihres Erfolgsgeheimnisses sein und zu ihrer Anpassungsfähigkeit beitragen könnten.“