Ist das Überwintern im Süden sparsamer?
Wissenschaftler haben die wahren Energiekosten des Vogelzugs bei einem Singvogel ermittelt
Millionen von Vögeln ziehen jedes Jahr in wärmere Klimazonen, um dem nahenden Winter zu entfliehen, doch neue Forschungen des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie (MPI-AB) zeigen, dass der Aufenthalt dort ihnen keine generellen Energieeinsparungen bringt. Mithilfe von miniaturisierten Loggern, die in freilebende Amseln implantiert wurden, gelang es den Wissenschaftlern detaillierte Messungen von Herzfrequenz und Körpertemperatur alle 30 Minuten vom Herbst bis zum folgenden Frühling aufzuzeichnen – das erste Mal, dass die Physiologie frei lebender Singvögel über die gesamte Überwinterungsperiode kontinuierlich in diesem Umfang gemessen werden konnte. Die Daten bieten beispiellose Einblicke in die Energiekosten von Zug- und Standvogelstrategien und enthüllen einen zuvor unbekannten Mechanismus, den Zugvögel verwenden, um vor ihrem Abflug Energie zu sparen. Die Ergebnisse werden am 18. September in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution veröffentlicht.
„Wir hätten nie erwartet, dass Vögel durch die Vermeidung kalter Winter am Ende keinen Energievorteil erzielen“, sagt Nils Linek, Erstautor der Studie und Forscher am MPI-AB. „Es war eine langjährige gängige Lehrbuchmeinung, dass Tiere insgesamt weniger Energie verbrauchen, wenn sie in wärmere Gebiete ziehen, doch unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die Einsparungen nicht aufsummieren. Vielmehr ist die Energiebilanz der Zugstrategie weitaus komplexer und interessanter, als die klassische Lehrbuchtheorie es vorhergesagt hat.“
Die Tierwanderung ist ein spektakuläres Beispiel dafür, wie sich Tiere an den Wechsel der Jahreszeiten anpassen. Die entscheidende Frage – welche Vorteile die Wanderungen genau bietet – ist jedoch ein wissenschaftliches Rätsel, da es schwierig ist, die Physiologie freilebender Tiere über lange Zeiträume hinweg in der freien Natur zu zuverlässig zu erforschen. In der neuen Studie haben Forscher des MPI-AB und der Yale University jetzt ein wichtiges Puzzleteil aufgedeckt, indem sie Sensoren einsetzten, die den Energieverbrauch von Amseln während der gesamten Zeit vom Herbst bis über das nächste Frühjahr hinweg durchgehend gemessen haben und anschließend die thermoregulatorischen Kosten energetisch modellieren konnten.
Die durch das dreijährige Experiment gewonnenen Daten zeigten, dass Amseln beträchtliche Energieeinsparungen erreichen, indem sie ihren Stoffwechsel 28 Tage vor dem Beginn ihrer Reise reduzieren. Diese Maßnahme könnte die Energiekosten des eigentlichen Fluges selbst weit übertreffen. „Sie drehen im Wesentlichen ihr internes Thermostat herunter, um Energie für die bevorstehende Reise zu sparen“, sagt Linek. In wärmeren Überwinterungsgebieten scheinen die Zugvögel jedoch trotz der erheblich geringeren Kosten für die Thermoregulation ihren Energieverbrauch nicht zu senken.
„Das war nicht das, was wir erwartet hatten“, erklärte Scott Yanco, Co-Erstautor der Studie von der Yale University. „Die Energiemodellierung sagte definitiv voraus, dass die Zugstrategie aufgrund der erheblich reduzierten Kosten für das Warmhalten in milderen Klimazonen einen erheblichen Energieüberschuss erzeugen sollte.“
Wo geht also dieser Energieüberschuss der Zugvögel hin? Nils Linek sagt dazu: „Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren, aber vermuten, dass es andere physiologische Anpassungen oder bisher unbekannte Kosten gibt, mit denen Zugamseln an ihren milderen Überwinterungsstandorten konfrontiert sind. Mögliche Faktoren könnten die Notwendigkeit erhöhter Wachsamkeit in einer neuen und unbekannten Umgebung, ein durch die neue Umgebung beanspruchtes Immunsystem oder andere unbekannte Stressoren sein, die den thermischen Vorteil, den sie hätten genießen sollen, zunichte machen.“
Das Forscherteam arbeitete mit Amseln in Süddeutschland, die wie viele europäische Singvogelarten „teilziehend“ sind. Das bedeutet, einige Individuen migrieren südwärts, um den Winter in milderen Regionen wie Spanien und Frankreich zu verbringen, während andere das ganze Jahr über in den kälteren Brutgebieten verbleiben. Im Rahmen der Studie wurden 120 Wildvögeln Miniatur-Logger zur Messung von Herzfrequenz und Körpertemperatur implantiert, und mithilfe klassischer Radiotelemetrie die Aktivität und Überwinterungsstrategie der Vögel aufgezeichnet. Insgesamt konnten so etwa eine Million physiologische Messungen gewonnen werden, um die Körpertemperatur und Herzfrequenz zwischen den verschiedenen Überwinterungsstrategien vergleichen zu können.
„Anhand der physiologischen Daten konnten wir mit unglaublicher Genauigkeit sehen, wie Vögel den Zug erleben - vom eigentlichen Flug über die anschließende Erholungsphase bis hin zu dem, was sie vor Ort im Überwinterungsgebiet tun“, sagt Tamara Volkmer, Mitautorin der Studie und Doktorandin am MPI-AB. „Durch die Aufzeichnung langfristiger, detaillierter Messungen des Energieverbrauchs von Zugvögeln konnten wir einen Blick auf die versteckten Kosten und Vorteile ihrer jeweiligen Überwinterungsstrategie werfen.“
Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass die Risiken und Herausforderungen der Zugstrategie bei Singvögeln nicht durch Energieeinsparungen in wärmeren Klimazonen ausgeglichen werden, was neue Fragen zu den evolutionären Treibern des saisonalen Vogelzugs aufwirft. „Dies könnte Auswirkungen auf unser Verständnis der Migration verschiedener Vogelarten und der zugrunde liegenden Mechanismen haben“, sagt Scott Yanco.
Die Studie hat auch Auswirkungen auf die Vorhersage, wie verschiedene Arten auf zukünftige Klimaszenarien reagieren könnten, so die Autoren. Der leitende Wissenschaftler Jesko Partecke, Gruppenleiter am MPI-AB, der seit zwei Jahrzehnten die Amselwanderung erforscht, sagt: „Wenn wir die physiologischen Grundlagen der Migration verstehen, können wir auch besser vorhersagen, welche Arten sich anpassen, welche ihre Zugmuster ändern und welche mit größeren Herausforderungen zu kämpfen haben werden, wenn sich die Welt weiter erwärmt.“